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„Guten Morgen, Julia, wach auf!“, sagte Susanne, wenn sie vor ihrem Bett stand, „schau, deine Mama ist da!“, und sie beugte sich über sie, um sie zu küssen. Sie hatte angefangen, zu ihr zu sprechen, und sie
beschränkte sich nicht nur auf Grüße, sondern erzählte ihr mehr und mehr und allmählich alles, was geschehen war, geschah und was mit ihr geschehen musste. Was sie zunächst so gestört hatte, dass sie immer
wieder neu ansetzen musste, ehe es ihr gelang, einige Sätze zu sagen und längere Reden zu halten, war, dass ihre Worte allein im Raum erklangen und ohne Echo blieben, dass Julia stumm dalag und weder mit einem
Zucken des Auges noch mit sonst einer Geste zu verstehen gab, dass sie verstand, dass sie überhaupt wahrnahm, wenn die Mutter etwas sagte, und wenn Julia etwas Wortähnliches äußerte, so konnte Susanne sicher
sein, dass es nicht eine Reaktion auf ihre Worte war und gar nichts aussagte, außer, dass Julia etwas in einem Laut von sich gab, der erzeugt war von Geschehnissen in ihrem Körper, dass der Laut nichts war als ein
motorischer Stimmreflex darauf. Endlich wurde Susanne jedoch sicherer, ließ sich weitertragen von ihren eigenen Worten und war froh, wenn sie sprach, dass sich etwas im Zimmer ereignete von ihr aus zu ihrer Tochter
hin, die Ärzte hatten ja auch gesagt, dass jede Ansprache gut sei und selbst, wenn man nicht wüsste, welche Wirkung sie hätte, der Kranken ein Gefühl davon geben könnte, dass sie nicht verlassen sei. Und es kam
Susanne oft so vor, als ziele sie mit ihren Worten wie mit einer Leine nach einem Gegenstand, den sie im Augenblick noch verfehlte und noch lange verfehlen würde, dem sie aber immer näher kommen und den sie eines
Tages einfangen würde. Die Zärtlichkeitsworte kamen ihr nun wie von selbst von den Lippen. Sie hörte sich Vögelchen sagen, Schätzchen und Herzchen, mein Kind und mein Liebling und war 18 Jahre zurück, als
Julia auf ihrem Arm gelegen hatte und noch nicht genau festzustellen war, ob das Gesichtchen, das sie machte, wirklich ein Lächeln war, das ihr oder auch Robert galt, oder doch nur ein Verziehen des Mündchens, das
Weinen und Schreien ankündigte. Ein wenig schämte sie sich zunächst immer noch und kam sich kindisch vor und zurückgefallen auf eine längst überwundenen Lebensstufe. Trotzdem ließ sie es zu und ließ es
geschehen, genau so, wie sie ihre Zärtlichkeiten zuließ, ihre Küsse und ihr Streicheln. Julia hätte sich mit aller Kraft gewehrt, wenn sie wach und gesund gewesen wäre, aber sie reagierte ja nicht, und wenn sie
reagiert hätte, wenn sie sie zurückgestoßen hätte, wie froh wäre sie gewesen! Niemand konnte sie hören und sehen, und wenn sie jemand beobachtet hätte, es wäre ihr unterdessen gleichgültig gewesen, denn es
war ja ihr Kind, um das sie sich sorgte und für dessen Wiedererwachen sie kämpfte und redete, laut, betont und aufmunternd, aber auch leise, mit der murmelnden Intensität einer Rosenkranzbeterin, die ernst bei
der Sache ist, manchmal aber, und vielleicht sogar von ihr selbst unbemerkt und unhörbar für ihre Tochter im Inneren ihres Kopfes, wenn sie im Auto fuhr, sich um Julias Wäsche kümmerte, am Abend allein im Sessel
saß oder sich bemühte einzuschlafen.
Er (Matthias) war unschlüssig, ob er sich freuen oder ob er traurig sein sollte, als Julia und Frank zusammen waren und jede freie Minute miteinander verbrachten. Er konnte es zunächst nicht verstehen, dass Julia
für den Jungen plötzlich Interesse hatte, für den sie jahrelang zu Hause und in der Schule kaum ein ernsthaftes Wort und einen Blick übrig gehabt hatte, der ihr je nach Laune zu klein, zu groß, zu dick
oder zu dünn gewesen war, dessen Frisur und Kleidung ihr nicht passte und überhaupt, er war ihr zu grün, obwohl er fast ein Jahr älter war als sie, dass er es also war, den sie aus der Schar all ihrer
Verehrer und kurzzeitigen Flammen auserwählte, um sich gerade in ihn ernsthaft zu verlieben. Er war ja auch groß und sportlich, ein hübscher junger Mann, intelligent, aber unkompliziert und gutmütig, und beinahe
alle Mädchen, die er kannte, hätte er zu Freundinnen haben können, wenn er nur gewollt hätte. Matthias war enttäuscht, als er merkte, dass die Vertrautheit zwischen ihnen nachließ, dass seine Schwester ihn
darum gebracht hatte, dass er wieder an die zweite Stelle rücken und sich jetzt mit dem begnügen musste, was Frank an Zeit für ihn übrig hatte, fünf oder zehn Minuten, die abfielen, wenn er zu ihnen nach
Hause kam, zu Julia, nicht zu ihm, und er auf Julia warten musste, die wieder gerade unterwegs war oder sich noch eben für das Ausgehen umziehen musste. Andererseits war er froh, dass er sich nicht in ein anderes
Mädchen verliebt hatte und er ihm so in gewisser Weise erhalten blieb, und manchmal schien es ihm, als wünschte er sich nichts Sehnlicheres für sie, als dass ihre Beziehung lang, dass sie möglichst für immer
dauern sollte, und das war ihm in der Mischung aus Freude und Schmerz ein schönes und fast schwärmerisches Gefühl, das auch noch von der Hoffnung belebt wurde, dass, wenn sich einmal die Lust der beiden
aneinander abgekühlt und sie sich an ihre Liebe gewöhnt hätten, für ihn wieder mehr Aufmerksamkeit von Seiten seiner Schwester, vor allem aber von Seiten Franks abfallen würde. Nun hatte er diese Aufmerksamkeit
wieder, früher, als er gedacht hatte, und intensiver, als er je hatte erwarten können, aber er hatte sie nicht dem natürlichen Verlauf der Dinge zu verdanken, sondern diesem schrecklichen Unfall, der über ihrem
Leben hing und zu einer Wolke geworden war aus Trauer und Verzweiflung.
Es half ja nichts. Wo sie sich auch befand, wohin sie auch ging in ihrer Wohnung, die Schuld wartete schon, stand im Badezimmer, saß am Schreibtisch, lag sogar in ihrem Bett und nahm sie in die Arme, und wie sie
sich auch dagegen wehrte, sie tat ihr Gewalt an. Ihr Bett war zerwühlt, als sie daraus aufstand, die Laken aus den Ritzen gezogen und die Decke herabgerutscht, sie ging zum Fenster und zog das Rollo in die Höhe,
die Sonne fiel auf Boden, auf Wände und Möbel, sie konnte sie nicht ertragen und schloss es wieder so weit, dass es nur einige Spalten breit auseinandergezogen blieb. Aber auch noch vor den schmalen und verzerrten
Lichtstreifen, die mit der Sonne durch das Zimmer wanderten, wich sie in die äußersten Ecken zurück. Sie dachte nicht daran, ihre Wohnung in Ordnung zu bringen, ließ, als wäre sie zu schwach, auch nur den
leichtesten Gegenstand aufzuheben und wegzuschaffen, alles stehen, wo es stand, und alles liegen, wo sie es abgelegt hatte oder wo es ihr hingefallen war. Sie hatte weder das Bedürfnis, sich zu waschen, noch
Hungergefühle. Nur trinken wollte sie, trank zunächst Wasser und Saft, dann aber fand sie einige Flaschen Wein, die sie gekauft hatte, weil sie einmal ein paar Kollegen hatte einladen wollen. Dazu war es aber nie
gekommen, die Flaschen waren liegengeblieben und sie hatte sie vergessen. Jetzt aber trank sie davon. Sie war an keinen Alkohol gewöhnt, und kaum ein Glas war nötig, sie in einen Zustand zu versetzten, in dem
ihrem Bewusstsein die Schwere genommen wurde. Alles versank allmählich, sie blieb in einer Art von Lethargie zurück, und so war sie in Dämmer und Dunkelheit, eingeschlossen in ihre Wohnung wie in einen Kasten und
beschützt von seinen Wänden, zog hinüber, wenn sie müde war, wachte auf, wenn sie geschlafen hatte, und sah eigentlich nur an den Lichtstreifen auf Wänden und Boden oder daran, dass sie fehlten, ob es Tag oder
Nacht war. Solange dieser Zustand andauerte, lebte sie wie außerhalb der Zeit, in der Verschränkung von Tag und Nacht wie auf einem Boot segelnd, schwer und sanft, bedrückt und erleichtert zugleich, in einem
Gefühl der Gleichgültigkeit für alles um sie herum und auch für sich selbst, und es war ihr zu wohl und zu bang, danach fragen, wie sie in diesen Zustand hineingekommen war und was sie wohl erwartete, wenn sie
ihn wieder verlassen müsste.
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