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Julias Fall
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Julias Fall

Der Roman „Julias Fall“ (ISDN 3-89811-929-7) ist im Frühjahr 2001 bei Books on Demand erschienen.

Pressestimmen

 Julias Fall

 

Auch der Roman „Julias Fall“ hat als Basis ein reales Ereignis. Einige Tage vor ihrem Abitur wird Julia von einem Auto angefahren. Sie fällt durch die Verletzungen des Unfalls in ein lang andauerndes Koma, aus dem sie nur ganz allmählich wieder erwacht. Dieses Ereignis bildet den Kern des Geschehens. Julia ist dabei insofern die Zentralperson, als ihr Schicksal zum Katalysator für das Leben der anderen Personen wird. Sie ist aber, außer am Anfang und gegen Ende des Romans, nur als Abwesende präsent und in den Reflexionen und Erinnerungen der anderen Akteure. Diese sind ihre Eltern Robert und Susanne, ihr Freund Frank, ihr Zwillingsbruder Matthias und schließlich die Verursacherin des Unfalls, die Lehrerin Christine Bucher, die Julia auch unterrichtet hat. Sie alle zwingt das Ereignis dazu, ihr bisheriges Leben zu überdenken, den Unfall einzuordnen und ihm, wenn möglich, einen Sinn zu geben. Jede der Personen versucht dies auf ihre Weise: Die Mutter am Krankenbett in ihrem Bemühen, ihr Kind ins Leben zurückzurufen, der Vater, der in Briefen an seine Tochter das ohne sie ablaufende Leben für sie aufbewahren will, die Lehrerin völlig einsam und auf sich gestellt in pausenlosen Selbstreflexionen, Julias Freund und ihr Zwillingsbruder in den Aufregungen der Examenszeit, in der auch sie stehen.

So ist, was geschieht, über weite Strecken inneres Geschehen, vollzieht sich in verschiedenen Formen des Inneren Monologs. Er wird aber immer wieder durchbrochen von realem Geschehen und der Reflexion wichtiger gesellschaftlicher Themen (Schule, Kunst und Theater, vor allem aber die Möglichkeiten der modernen Medizin), die auch von einigen Nebenpersonen in die inneren Vorgänge hineingetragen werden und gelegentlich  ins Satirische hinüber spielen. An einigen Stellen finden sich auch balladenartige Einschübe, die die Betroffenheit der Freunde und Kollegen widerspiegeln.

Leseprobe

 

Liebe Julia, schrieb er, wohin soll ich denn rufen, wenn ich gar nicht mehr weiß, wo ich dich finden kann. Er hatte vor sich Julia in ihrem Bett und Susanne wachend davor, sitzend und stehend, unverrückbar, alles abwehrend, was Schädliches sich Julia nähern könnte, und dabei die Automaten darin unterstützend, den Tod abzuwehren in der Zeit, als sie nur allein Julia am Leben hatten erhalten können und sie gestorben wäre, wenn man auch nur einen davon abgestellt oder falsch geschaltet hätte. Und manchmal verflossen Julia und Susanne miteinander oder waren durch die Schnüre und Schläuche der Automaten wie durch Nabelschnüre in seiner Vorstellung miteinander verbunden. Die Zuversicht seiner Frau erschien ihm dann wieder plötzlich höhnisch und vermischt mit einer Art von Schadenfreude ihm gegenüber, so, als enthalte sie ihm willentlich vor, was sie so sicher machte, wo es doch nur eines Wortes oder einer Geste von ihr bedurft hätte, ihm die schrecklichen Zweifel zu nehmen, ihn ebenso sicher zu machen, wie sie es war, und ihn aus der Tiefe wieder heraufzuholen, in die er gefallen war, obwohl er wiederum auch wusste, dass Susanne gar nichts anderes tun konnte als das, was sie tat, und sie die Erfahrungen auch nicht näher artikulieren konnte, die sie an Julias Krankenbett machte, wie er ihr gegenüber in Wirklichkeit ja auch kaum hätte begründen können, warum er angefangen hatte, Julia zu schreiben, aber er hatte sogar die Tatsache verschwiegen und sein Tagebuch vor Susanne versteckt. Also hätte es denn an ihm gelegen, dieselbe Zuversicht zu entwickeln, aber er fand nicht heraus, wie er es machen sollte. Liebe Julia, schrieb er noch, du bist jung, du warst immer so stark und voller Lebenskraft, und auch die Ärzte haben gesagt, dass deine Jugend ein großes Vermögen wäre, wach auf, wach doch auf und werde wieder gesund! Aber es waren Worte, nichts als Worte, und er konnte sie so oft aussprechen wie er wollte, er konnte sie aufschreiben und das Geschriebene mit Ausrufezeichen versehen, und doch blieb die Sicherheit aus, und alles, was er tat, kam ihm vor wie ein kindisches Spiel. Es war das letzte, was er für längere Zeit schrieb.

 

„Guten Morgen, Julia, wach auf!“, sagte Susanne, wenn sie vor ihrem Bett stand, „schau, deine Mama ist da!“, und sie beugte sich über sie, um sie zu küssen. Sie hatte angefangen, zu ihr zu sprechen, und sie beschränkte sich nicht nur auf Grüße, sondern erzählte ihr mehr und mehr und allmählich alles, was geschehen war, geschah und was mit ihr geschehen musste. Was sie zunächst so gestört hatte, dass sie immer wieder neu ansetzen musste, ehe es ihr gelang, einige Sätze zu sagen und längere Reden zu halten, war, dass ihre Worte allein im Raum erklangen und ohne Echo blieben, dass Julia stumm dalag und weder mit einem Zucken des Auges noch mit sonst einer Geste zu verstehen gab, dass sie verstand, dass sie überhaupt wahrnahm, wenn die Mutter etwas sagte, und wenn Julia etwas Wortähnliches äußerte, so konnte Susanne sicher sein, dass es nicht eine Reaktion auf ihre Worte war und gar nichts aussagte, außer, dass Julia etwas in einem Laut von sich gab, der erzeugt war von Geschehnissen in ihrem Körper, dass der Laut nichts war als ein motorischer Stimmreflex darauf. Endlich wurde Susanne jedoch sicherer, ließ sich weitertragen von ihren eigenen Worten und war froh, wenn sie sprach, dass sich etwas im Zimmer ereignete von ihr aus zu ihrer Tochter hin, die Ärzte hatten ja auch gesagt, dass jede Ansprache gut sei und selbst, wenn man nicht wüsste, welche Wirkung sie hätte, der Kranken ein Gefühl davon geben könnte, dass sie nicht verlassen sei. Und es kam Susanne oft so vor, als ziele sie mit ihren Worten wie mit einer Leine nach einem Gegenstand, den sie im Augenblick noch verfehlte und noch lange verfehlen würde, dem sie aber immer näher kommen und den sie eines Tages einfangen würde. Die Zärtlichkeitsworte kamen ihr nun wie von selbst von den Lippen. Sie hörte sich Vögelchen sagen, Schätzchen und Herzchen, mein Kind und mein Liebling und war 18 Jahre zurück, als Julia auf ihrem Arm gelegen hatte und noch nicht genau festzustellen war, ob das Gesichtchen, das sie machte, wirklich ein Lächeln war, das ihr oder auch Robert galt, oder doch nur ein Verziehen des Mündchens, das Weinen und Schreien ankündigte. Ein wenig schämte sie sich zunächst immer noch und kam sich kindisch vor und zurückgefallen auf eine längst überwundenen Lebensstufe. Trotzdem ließ sie es zu und ließ es geschehen, genau so, wie sie ihre Zärtlichkeiten zuließ, ihre Küsse und ihr Streicheln. Julia hätte sich mit aller Kraft gewehrt, wenn sie wach und gesund gewesen wäre, aber sie reagierte ja nicht, und wenn sie reagiert hätte, wenn sie sie zurückgestoßen hätte, wie froh wäre sie gewesen! Niemand konnte sie hören und sehen, und wenn sie jemand beobachtet hätte, es wäre ihr unterdessen gleichgültig gewesen, denn es war ja ihr Kind, um das sie sich sorgte und für dessen Wiedererwachen sie kämpfte und redete, laut, betont und aufmunternd, aber auch leise, mit der murmelnden Intensität einer Rosenkranzbeterin, die ernst bei der Sache ist, manchmal aber, und vielleicht sogar von ihr selbst unbemerkt und unhörbar für ihre Tochter im Inneren ihres Kopfes, wenn sie im Auto fuhr, sich um Julias Wäsche kümmerte, am Abend allein im Sessel saß oder sich bemühte einzuschlafen.

 

Er (Matthias) war unschlüssig, ob er sich freuen oder ob er traurig sein sollte, als Julia und Frank zusammen waren und jede freie Minute miteinander verbrachten. Er konnte es zunächst nicht verstehen, dass Julia für den Jungen plötzlich Interesse hatte, für den sie jahrelang zu Hause und in der Schule kaum ein ernsthaftes Wort und einen Blick übrig gehabt hatte, der ihr je nach Laune  zu klein, zu groß, zu dick oder zu dünn  gewesen war, dessen Frisur und Kleidung ihr nicht passte und überhaupt, er war ihr zu grün, obwohl er fast ein Jahr älter war als sie, dass er es also war, den sie aus der Schar all ihrer Verehrer und kurzzeitigen Flammen auserwählte, um sich gerade in ihn ernsthaft zu verlieben. Er war ja auch groß und sportlich, ein hübscher junger Mann, intelligent, aber unkompliziert und gutmütig, und beinahe alle Mädchen, die er kannte, hätte er zu Freundinnen haben können, wenn er nur gewollt hätte. Matthias war enttäuscht, als er merkte, dass die Vertrautheit zwischen ihnen nachließ, dass seine Schwester ihn darum gebracht hatte, dass er wieder an die zweite Stelle rücken und sich jetzt mit dem begnügen musste, was Frank an Zeit für ihn übrig hatte,  fünf oder zehn Minuten, die abfielen, wenn er zu ihnen nach Hause kam, zu Julia, nicht zu ihm, und er auf Julia warten musste, die wieder gerade unterwegs war oder sich noch eben für das Ausgehen umziehen musste. Andererseits war er froh, dass er sich nicht in ein anderes Mädchen verliebt hatte und er ihm so in gewisser Weise erhalten blieb, und manchmal schien es ihm, als wünschte er sich nichts Sehnlicheres für sie, als dass ihre Beziehung lang, dass sie möglichst für immer dauern sollte, und das war ihm in der Mischung aus Freude und Schmerz ein schönes und fast schwärmerisches Gefühl, das auch noch von der Hoffnung belebt wurde, dass, wenn sich einmal die Lust der beiden aneinander abgekühlt und sie sich an ihre Liebe gewöhnt hätten, für ihn wieder mehr Aufmerksamkeit von Seiten seiner Schwester, vor allem aber von Seiten Franks abfallen würde. Nun hatte er diese Aufmerksamkeit wieder, früher, als er gedacht hatte, und intensiver, als er je hatte erwarten können, aber er hatte sie nicht dem natürlichen Verlauf der Dinge zu verdanken, sondern diesem schrecklichen Unfall, der über ihrem Leben hing und zu einer Wolke geworden war aus Trauer und Verzweiflung.

 

Es half ja nichts. Wo sie sich auch befand, wohin sie auch ging in ihrer Wohnung, die Schuld wartete schon, stand im Badezimmer, saß am Schreibtisch, lag sogar in ihrem Bett und nahm sie in die Arme, und wie sie sich auch dagegen wehrte, sie tat ihr Gewalt an. Ihr Bett war zerwühlt, als sie daraus aufstand, die Laken aus den Ritzen gezogen und die Decke herabgerutscht, sie ging zum Fenster und zog das Rollo in die Höhe, die Sonne fiel auf Boden, auf Wände und Möbel, sie konnte sie nicht ertragen und schloss es wieder so weit, dass es nur einige Spalten breit auseinandergezogen blieb. Aber auch noch vor den schmalen und verzerrten Lichtstreifen, die mit der Sonne durch das Zimmer wanderten, wich sie in die äußersten Ecken zurück. Sie dachte nicht daran, ihre Wohnung in Ordnung zu bringen, ließ, als wäre sie zu schwach, auch nur den leichtesten Gegenstand aufzuheben und wegzuschaffen, alles stehen, wo es stand, und alles liegen, wo sie es abgelegt hatte oder wo es ihr hingefallen war. Sie hatte weder das Bedürfnis, sich zu waschen, noch Hungergefühle. Nur trinken wollte sie, trank zunächst Wasser und Saft, dann aber fand sie einige Flaschen Wein, die sie gekauft hatte, weil sie einmal ein paar Kollegen hatte einladen wollen. Dazu war es aber nie gekommen, die Flaschen waren liegengeblieben und sie hatte sie vergessen. Jetzt aber trank sie davon. Sie war an keinen Alkohol gewöhnt, und kaum ein Glas war nötig, sie in einen Zustand zu versetzten, in dem ihrem Bewusstsein die Schwere genommen wurde. Alles versank allmählich, sie blieb in einer Art von Lethargie zurück, und so war sie in Dämmer und Dunkelheit, eingeschlossen in ihre Wohnung wie in einen Kasten und beschützt von seinen Wänden, zog hinüber, wenn sie müde war, wachte auf, wenn sie geschlafen hatte, und sah eigentlich nur an den Lichtstreifen auf Wänden und Boden oder daran, dass sie fehlten, ob es Tag oder Nacht war. Solange dieser Zustand andauerte, lebte sie wie außerhalb der Zeit, in der Verschränkung von Tag und Nacht wie auf einem Boot segelnd, schwer und sanft, bedrückt und erleichtert zugleich, in einem Gefühl der Gleichgültigkeit für alles um sie herum und auch für sich selbst, und es war ihr zu wohl und zu bang, danach fragen, wie sie in diesen Zustand hineingekommen war und was sie wohl erwartete, wenn sie ihn wieder verlassen müsste.

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